Wenn die Stadt schrumpft

Ich erinnere mich noch gut an Kaunas, Litauen, 2008 – dort habe ich einige Wochen nach meiner Ankunft in einem meiner Texte geschrieben, dass „die Stadt scheinbar gar nicht merkt, dass ich da bin.“ Doch dann, nach exakt 3 Monaten war es dort soweit, ich fühlte mich zuhause und nicht mehr fremd in der neuen Stadt im südlichen Baltikum.

Eine neue Stadt in einem neuen Land, das Anfangsszenario ist ähnlich. Meine allererste Fahrt am 1. März dieses Jahres durch die Stadt, in der ich mehrere Monate bleiben sollte, bestand aus Schauen und Staunen. Häusermeere, Straßengewirre, weiße Straßenhunde, Menschenmengen, Geschäftsschilder. Orientierung fehlt völlig und wie damals vor sechs Jahren in Litauen kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, jemals ohne Probleme nach Hause zu finden.

Tag 3 und ich verirre mich schon. Mit vier Einkaufstaschen bepackt und einem stillen Handy ohne Akku laufe ich durch die Straßen und versuche mich an die wenigen Orientierungspunkte, die ich kenne, zu erinnern. In der Zwischenzeit wird ohne mein Wissen bereits ein Rundruf „Sarah ist verloren gegangen.“ aktiviert, der in Windeseile von meinem besten Freund zu meinen WG-Mitbewohnerinnen und weiter zu meiner Betreuerin an der Germanistik läuft. Solche Netzwerke funktionieren hier blitzschnell. Stunden später komme ich doch irgendwann zuhause an, meine Mitbewohnerin schreibt mir daraufhin unsere Adresse und alle wichtigen Telefonnummern auf und steckt sie mir in mein Geldbörsel. Ich fühle mich wie ein Volksschulkind.

Nach der Verirrphase folgt eine ganze Woche, in der ich mich täglich 3-4 Stunden lang in der Stadt treiben lasse, links und rechts durch die Straßen laufe, versuche, wieder zurückzufinden oder notfalls nach dem Weg frage. Innerhalb kürzester Zeit lerne ich so die verschiedensten Stadtteile kennen, und ich denke an Barbara Frischmuths Worte, die meinte „Ich ergehe mir neue Städte meistens.“

Busfahren ist wieder eine andere Geschichte. Ich bin mir nicht sicher, was ich sagen muss, damit der Minibus stehen bleibt, darum fahre ich öfters zu weit und steige aus, wo andere, die Türkisch besser beherrschen als ich, auch aussteigen. Wenn man steht im Minibus, sieht man noch dazu nicht aus dem Fenster, und ich bin immer etwas angespannt und versuche, auch im Dunklen noch vertraute Lichter auszumachen, um mein Zuhause nur nicht zu verpassen.

Wochen vergehen … Und Erzurum ist gnädiger als Kaunas. Die Stadt empfängt mich offener als das teilweise doch recht frostige Litauen und vor allem, sie lässt mich viel früher spüren, dass sie mich entdeckt hat im Gewirr ihrer Gassen.

Der Teppichhändler ist der Erste, den ich hier kennenlerne, aus einem Regenguss geflüchtet und durch den Tee in seinem bunten Laden aufgewärmt. Ihm bringe ich auch gleich in der ersten Woche zwei vietnamesische Touristen, die ich – an der grellrosa Regenjacke sofort als Nicht-TürkInnen enttarnt – in sein Geschäft mitnehme. Und er ist nur der Erste einer langen, langen Kette an Bekanntschaften, die mir die Stadt tagtäglich bietet.

Da ist der CD-Verkäufer, der für mich immer extra deutsche Lieder von türkischen Sängern spielt (und zwar via Lautsprecher direkt auf die Hauptstraße). Der Schneider, der in meine kurdische Pluderhose Gummibänder einnäht und sich ein österreichisches Maßband wünscht. Der Schuhputzer, der mir eine Zeitung schenkt und dessen Freund, der sich über meine zwei kurdischen Sätze freut. Der Handyguthabenverkäufer, der mir Trabzon empfiehlt und bei dem ich den x-ten Tee des Tages trinken darf. Der Fotoverkäufer, der begeistert von seinem Besuch 1985 in Innsbruck erzählt und mir beim nächsten Besuch unbedingt Fotos zeigen will.

Genau diese Gespräche, versüßt mit endlosen Schwarztees, sind es, die mir die Stadt viel schneller vertraut machen, als es in Litauen der Fall war.

Und dann – Mitte Mai – nach etwas mehr als 2 Monaten hier, tritt der Moment ein, auf den ich gewartet hatte und der sich in Kaunas ähnlich angefühlt hat. Plötzlich ist die Stadt einem vertraut, man fühlt sich nicht mehr beäugt, wie auf der Flucht, fragend, unsicher, als ob man einen Schritt in eine falsche Richtung machen könnte. Die türkischen Sätze kommen mir schnell über die Lippen, das Gewirr der Straßen scheint sich aufzulösen, die Stadt scheint klarer und fast ein wenig zu schrumpfen. Ich treffe die ersten Bekannten zufällig auf der Straße, ich kenne die drei Straßenhunde auf dem Weg zur Uni und mache mir Sorgen, wenn ich einen von ihnen nicht sehe.

Mein Atem wird langsamer und mein Gang aufrechter.

Die Stadt weiß, dass ich da bin und hat sich mit mir angefreundet.

Zurück
Zurück

Wünsch dir was!

Weiter
Weiter

Das Land des Miteinanders