Das Land des Miteinanders

Streifzug durch mein türkisches Leben

“Manchmal träume ich schwer und dann denk ich, es wär Zeit zu bleiben und nun was ganz andres zu tun.”

(Heute hier, morgen dort von Philipp Poisel)

Erzurum, 1.Juni 2014. Vor exakt 6 Jahren brütete ich in Kaunas, 3800km von meiner jetzigen Stadt Erzurum entfernt, über einem Text für den Jahresbericht. Das kalte Litauen mit den warmen Händen meiner Kinder im Kinderheim habe ich mit einer Bergstadt im Herzen Ostanatoliens auf 1900m Seehöhe eingetauscht.

Erzurum, die Stadt, deren Hunde Barbara Frischmuth 1960 pelziger als anderswo empfand, empfing mich mit offenen Armen. Eingebettet in eine Hochebene, umgeben von Dreitausendern, schroffen Felsen, dann wieder sanften Hügeln. Der Ausdruck „vier Jahreszeiten an einem Tag in Erzurum“ ist treffend; 18 Grad mittags und ein Schneesturm abends sind keine Seltenheit.

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Obwohl ich zuvor schon in der Türkei war, im Osten des Landes zu leben stellt mich vor neue Herausforderungen. Nicht nur das Bestreiten meines Alltags auf Türkisch, sondern auch der omnipräsente Blick von außen ist manchmal anstrengend. Wie oft man Teppiche reinigen lässt, wie man sich kleidet, wer einen nach Hause bringt – all das hat Gewicht. Zudem fehlt mir hier manchmal das Alleinsein. Egal ob Einkauf, Tee oder der Weg zur Uni - es gibt wenig, was hier alleine gemacht wird.

Andererseits: Dieses Land überhäuft einen mit einer überwältigenden Neugierde und Gastfreundschaft. Im heißen Diyarbakir sind mein Vater und ich wohl die einzigen nichttürkischen Touristen. Die Tees, zu denen wir täglich von Friseuren, Verkäufern, Teppichhändlern eingeladen werden, sind unzählbar. Auch in Erzurum werde ich oft neugierig befragt, vom Sattelmacher, Schneider, Kastanienhändler. Alle freuen sich über mein Türkisch, fragen nach Europa, dem Bild des Islam und betonen. „Zuallererst ist man Mensch. Gastfreundschaft ist einer der höchsten Werte. Egal, woher er kommt und welcher Religion er angehört, der Gast wird von uns geliebt.“

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Es ist ein Land des Miteinanders, dessen Alltag aus zahlreichen kleinen Gesprächen besteht, die das Leben bunt färben. Der Fotohändler berichtet begeistert von seinem Besuch in Innsbruck, der Polizist würde gerne sein Englisch üben und der Kauf eines Handyguthabens entwickelt sich zu einem Gespräch über die Weltreligionen. Meine Studierenden an der Germanistik, denen ich Deutsch lehre, fragen mich am Anfang fast jeder Stunde, was ich trinken möchte, laden mich in der Stadt auf Zuckerwatte ein und strecken nach einer Extrastunde die Arme aus und sagen „So viel danke!“. Man schaut aufeinander, man hilft einander.

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Sollte so mancher Morgen, 2800km von Wien entfernt, trüb sein - sobald ich zur Uni gehe, dem Hausberg Palandöken einen stillen Gruß schicke und die bizarre Landschaft betrachte, fühle ich mich am richtigen Platz.

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Somit hat mein Streifzug, der mich über Steyr, Kaunas, Wien und Avignon nach Erzurum geführt hat, eine spannende Wendung genommen. Es öffnen sich Türen im Osten Anatoliens, die einladend sind und mich – wieder einmal – zum Bleiben auffordern.

Zum Bleiben im Land des aufmerksamen Miteinanders.

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Wenn die Stadt schrumpft