Palästina mit eigenen Augen sehen

Ich stelle diesem Text zwei Sätze der Demut voran, die mir wichtig sind: Zweieinhalb Wochen in Palästina und Israel reichen natürlich nicht aus, um „den Nahostkonflikt“ zu verstehen. Sie waren maximal ein kleiner Einblick, ein Türöffner in ein Gebiet, das man meistens nur aus den Abendnachrichten kennt. Dennoch war diese Reise eine der aufwühlendsten meines Lebens und ich möchte meine Einblicke gerne teilen.

Acht Tage wandern wir auf den Spuren Abrahams durch das Westjordanland, auf Englisch West Bank, das palästinensische Gebiet, das von Israel besetzt und in drei Zonen geteilt ist. A, B und C – das lernen wir gleich am ersten Tag. Das Ausmaß an Segregation zwischen Palästinenser*innen und Israelis schockiert mich und war mir so nicht bewusst. Es gibt Autobahnen, die man nur mit israelischen Autokennzeichen befahren darf. Es gibt israelische Schulen mit Unterricht auf Hebräisch und palästinensische Schulen mit Unterricht auf Arabisch. Orte, wo sich beide Gruppen noch begegnen können, sind auf ein Minimum reduziert.

Wo die Angst wohnt

Meine israelisch-jüdische Freundin, die ich in Tel Aviv besuche, hört sich bewundernd meine Reisepläne an und meint: „Diese Orte in der West Bank würde ich auch gerne mal sehen, aber das ist für mich zu gefährlich.“ Die Angst vor den anderen, sie wohnt auf beiden Seiten, das erfahre ich gleich zu Beginn meiner Reise.

Nach fünf Tagen im hochmodernen, teuren Tel Aviv, über dem eine große Leichtigkeit liegt und Start-Ups, Eiskaffee und die Partyszene das Stadtbild beherrschen, treffe ich die Wandergruppe vom Berliner Reiseunternehmen Al Sharq (auf Deutsch: “Der Osten” - die Organisation veranstaltet ausschließlich Begegnungs- und Wanderreisen in den Nahen Osten) in Jerusalem.

Jerusalem ist eine Stadt, die ich kaum beschreiben kann. Sie bleibt wenig greifbar für mich, emotional immens aufgeladen, alle drei monotheistischen Weltreligionen (Christentum, Judentum, Islam) in großer Dichte in einer einzigen Stadt. Ich wäre gerne talentierte Zeichnerin, als ich vor den Jerusalemer Stadttoren sitze und stundenlang beobachte.

Jerusalem wird mich ein anderes Mal wiedersehen, mit mehr Zeit und mehr Ruhe und zu einem Zeitpunkt, wo nicht alle drei großen Feierlichkeiten – das jüdische Pessachfest, das christliche Ostern und der muslimische Fastenmonat Ramadan – zusammenfallen wie 2022.

Die Wanderwoche im Westjordanland ist weniger quirlig als die Altstadt in Jerusalem, aber emotional genauso turbulent. Wir gehen zusammen stundenlang durch die verblüffend abwechslungsreiche Landschaft: Zu Beginn schreiten wir durch saftig-grüne Blumenwiesen, dann durchqueren wir schroffe Canyons in einer immer karger werdenden Landschaft. Zwei Tage wandern wir durch eine beige-trockene Steinwüste, um die Reise mit einer Wanderung durch uralte Gartenterrassen mit Olivenhainen und Wasserkanälen in der Nähe von Betlehem abzuschließen. Die Natur ähnelt Jordanien, wo ich vor drei Jahren gelebt habe. Doch emotional ist Palästina ganz anders und deutlich aufwühlender als Amman. Beim Vorbereitungscall zur Reise meinte unser Guide: „Es ist ja keine politische Studienreise“, bevor er innehält und sich korrigiert: „In besetzten Gebieten zu wandern kann eigentlich gar nicht unpolitisch sein.“ Was er damit meint, verstehe ich erst später.

Wir sind jeden Tag von morgens bis abends draußen, am Abend bin ich staubig, verschwitzt, aber auch sehr glücklich. Und schlüpfe am nächsten Tag wieder motiviert in meine Wanderschuhe und schultere meinen Rucksack. Es fühlt sich sehr lebendig an, sehr nahe am „echten Leben“ und es tut gut, von einer digitalen, verkopften und verplanten Welt unendlich weit weg zu sein. Aber es sind nicht nur die Wandermomente, sondern vor allem die Begegnungen mit den Menschen, die bewegen. Jeden Tag begleiten uns andere Guides aus den Ortschaften, in denen wir schlafen. Ich bin wieder einmal dankbar für mein Arabisch und die Gespräche, die sich auf diese Weise entspinnen können.

Israel und Palästina trennt eine „grüne Linie“, eine Grenze, die mal ein Zaun, mal ein Stacheldraht, mal Sandpiste mit Scharfschützen oder - wie bei Betlehem - auch eine acht Meter hohe Betonmauer mit Wachtürmen ist, bei deren Anblick ich mich wie in einem Hochsicherheitsgefängnis fühle. Idee dieser Mauer ist es, Israel vor palästinensischen Angriffen zu schützen. Diese Grenze wird aber auch täglich von Tausenden Palästinenser*innen illegal überquert, um im israelischen Kernland zu arbeiten. Viele sind im Baugewerbe tätig, ohne Arbeitsvertrag oder Versicherung, so erzählt uns ein Guide, aber mit höherem Lohn als in den palästinensischen Gebieten.

Wir lernen eine Sportgruppe aus Haifa kennen, auf ihren Shirts steht in weißen Lettern Right to movement Palestine. Sie veranstalteten vor einigen Jahren einen Marathon in Betlehem und mussten zweieinhalb Mal dieselbe Strecke laufen, um nicht durch einen Checkpoint zu müssen.

Ohnmacht trifft Willkür

Kontakt mit Checkpoint-Soldat*innen haben wir nur ein einziges Mal. Bei einer Wanderung stehen wir unterhalb eines Checkpoints im Schatten. Es dauert keine fünf Minuten und schon kommen zwei bewaffnete Soldaten auf uns zu. Sie fragen unseren Guide nach seinem Namen, aus welchem Ort er kommt und wer wir sind. Er antwortet, der Rest der Gruppe ist still. Es ist ein seltsames Gefühl der Ohnmacht. Gleichzeitig ist es für Menschen, die hier leben, alltäglich – aber dadurch nicht angenehmer – dauernd ihren Ausweis zeigen und bei Checkpoints anhalten zu müssen. Man kann aber auch durchgewunken werden – oder die Straße ist komplett gesperrt. Es kann auch sein, dass alle Zufahrtsstraßen gesperrt sind und man nicht zur Schnellstraße auffahren kann; passende Betonblöcke in U-Form stehen in vielen Gegenden am Straßenrand bereit. Diese Willkür erschwert den Alltag und resigniert, macht aber auch wütend.

In den ersten drei Tagen sind wir im verschlafenen, aber großartigen Dorf Sebastiya untergebracht. Gleich am zweiten Tag ändern sich unsere Pläne, weil jüdische Siedler*innen einen Aufmarsch zu einer aufgelassenen Siedlung gleich neben dem Dorf planen. Sie wollen dorthin zurück, um sich wieder anzusiedeln und auf der Hügelkuppe eine jeshiva, eine jüdische Schule, zu errichten. Unzählige Busse bringen Menschen dorthin, der Artikel am nächsten Tag in der Zeitung bringt mich ob der Bildsprache zum Nachdenken. Foto 1: Jüdisch-israelische Familien wandern friedlich auf den Hügel. „We are coming home“, wird zitiert. Foto 2: Palästinensische junge Männer werfen Steine, im Hintergrund brennt es. Diese Bilder sind es wohl auch, die in den westlichen Medien so oft wiedergekäut werden. Gerade deshalb erscheint es mir im Laufe der Reise immer wichtiger, selbst in Palästina zu sein und einen – wenn auch nur begrenzten – eigenen Eindruck des Alltags vor Ort zu bekommen.

Mauern, Macht und die Menschen

Das israelisch-jüdische Narrativ von Israel als gemeinsamen Zufluchtsort ist stark spürbar und wird fortwährend wiederholt: Israel als Heiliges Land, aus dem man vor Jahrtausenden vertrieben wurde und in das Jüd*innen nun zurückkehren. Coming home. Für Israel als Besatzungsmacht bedeutet dies aber auch einen permanenten Verteidigungsmodus. Mauern bauen, Menschen kontrollieren, Macht manifestieren. „Die Palästinenser haben ständig den Finger auf unserem Puls“, höre ich in einer Doku von einem Israeli. Trauriger Höhepunkt ist der vorletzte Abend, an dem wir mit einem Hotelbesitzer aus Betlehem unterwegs sind. „Ich zeige euch das größte Stadion der Welt“, verkündet er und fährt einen Hügel hinauf. Wir blicken uns etwas ungläubig an. Das größte Stadion der Welt wird ja wohl nicht in Betlehem stehen. Was er uns kurz darauf zeigt, ist tatsächlich unendlich groß. Es ist eine meterhohe senkrechte Betonmauer mit einer Schräge oben, die der Architektur eines Sportstadions ähnelt. Sie windet sich kilometerlang durch die Landschaft, wir können ihr Ende nicht sehen. Sie begleitet eine gut ausgebaute Schnellstraße für Israelis – damit keine Steine von palästinensischer Seite auf die Autos geworfen werden können.

Die palästinensische Wahrnehmung von der Besetzung ist ebenso stark. In Nablus fallen mir an jeder zweiten Straßenecke Plakate von Menschen auf. Zivilist*innen, die bei Auseinandersetzungen mit Israel getötet wurden. Oder Kämpfer*innen, die im Kampf gegen die Besatzungsmacht Israel ihr Leben verloren haben. Auf einem Stein steht gemeißelt: „Never forgive. Never forget.“

Das Gebiet für Palästinenser*innen hat sich drastisch verkleinert. Dass nun Tausende jüdische Siedlungen auch im Westjordanland gebaut werden, sorgt für viele Auseinandersetzungen und Wut. Als wir einmal oben auf einem Hügel Pause machen, verstehen wir plötzlich, wie man jüdische Siedlungen von palästinensischen Dörfern unterscheiden kann. Es ist karg und trocken, außer Olivenbäumen wächst nicht sehr viel. Die jüdischen Siedlungen sehen von der Ferne aus wie Oasen, mit Palmen, Vorgärten und manchmal sogar Häusern mit roten Giebeldächern. Man wähnt sich in Deutschland oder Österreich. Giebeldächer sind offenbar der letzte Schrei und erinnern bewusst an europäische Strukturen, lassen den Traum vom Eigenheim im gelobten Land aufleben. Es geht also nicht nur um Land, sondern wie so oft auch um den Zugang zu Ressourcen wie Wasser. In einem so wasserarmen Gebiet ist dies ein brisantes Thema.

Tausend Wörter sind viel zu wenig, um die Erlebnisse dieser Wochen auch nur annähernd zu beschreiben. In mir wirkt diese Reise seit Wochen noch nach wie kaum eine andere Reise zuvor. Angst auf beiden Seiten, Macht und Ohnmacht, ungerecht verteilte Ressourcen, Verständnis für Wut und ein bedrückendes Gefühl von „Das ist auch ein Teil unserer (europäischen) Geschichte.“

Einen sanften Übergang von Schwere zu Leichtigkeit gibt es nicht, in Palästina und Israel zumindest liegt beides nah beieinander. Enden möchte ich dennoch mit zwei wunderbaren Wandermomenten:

In Jericho brechen wir zu fünft zu einer Ganztagestour durch ein oasenähnliches Tal auf, zuerst in völliger Trockenheit und einer schroffen Landschaft in Beige, das Wasser weit unter uns in einer Schlucht. Danach werden wir lange von einem Wasserlauf begleitet und es wird grüner und grüner. Palmen, meterhoher Bambus, wehendes Schilfgras, Mispelbäume – und dann direkt vor uns ein junger Hirte mit einer Herde Kamele, die am Wasser trinken. Die Szenerie ist an Schönheit kaum zu überbieten. Wir machen einen vorsichtigen Bogen um die Herde, die mit Babykamelen unterwegs ist und sind ganz sprachlos.

In der Steinwüste zwischen Jericho und Jerusalem erklimmen ein paar besonders Motivierte abends noch einen nahegelegenen Gipfel. Obwohl wir sprinten, verpassen wir den Sonnenuntergang knapp. Der Ausblick entschädigt uns dennoch für die Mühen des langen, heißen Wandertages: Am Horizont sind die weißen Häuser von Jerusalem zu sehen, im Osten erstreckt sich eine Hochebene, dahinter das Jordantal und damit die Grenze zu Jordanien. 2018 bin ich auf der jordanischen Seite gestanden und Menschen haben mir Palästina im Westen gezeigt, nun ist es genau umgekehrt. Wir stehen zu acht auf dem Gipfel, verstaubt und verschwitzt, und wenden uns nach allen Seiten. Für ein paar Momente ist es völlig still, wir schweigen und die Zeit scheint stillzustehen.

(Erstveröffentlichung einer Kurzversion im Jahresbericht des BRG Steyr, Schuljahr 2021/22)


Nachlese zu Palästina & meiner Reise

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Ya Amman.

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