Lammeintopf um Mitternacht

Oder: Der Inbegriff des Unterwegsseins

Lamm oder Linsen

Der Bus bleibt stehen, ich blinzle, schaffe es kaum meine Augen zu öffnen. Die Digitaluhr über dem Fahrer zeigt 3:20. Viel zu früh. „20 dakka molamiz var.“ 20 Minuten Pause. Ganz egal, ob mein nächster Zielort noch mehrere Stunden oder eigentlich nur mehr 30 Minuten entfernt ist. Pausenzeit ist Pausenzeit in der Türkei. Oft bleibe ich einfach im Bus, hänge mir Schals, Jacke und Pullover über meine Augen und versuche weiter zu schlafen. Dieses Mal aber raffe ich mich doch auf, ziehe meine Jacke über und steige aus. Eisige Kälte schlägt mir entgegen. Einige riesenhafte weiße Hunde mit dichtem Fell liegen neben dem Bus, ein dünklerer streunt in der Nähe herum. Da bin ich also wieder: auf einer der unzähligen Raststationen für Busse in der Türkei.

Wie immer bin ich verblüfft, dass das kleine Restaurant gut gefüllt ist. Service, Bestellung und Bedienung ist perfektioniert in diesem Land, die Abläufe sind effizient, Reisende werden sofort bedient, wenn sie eintreten. Das Essen ist nicht besonders abwechslungsreich, die Plastiktabletts sind wenig romantisch. Menschen sitzen an den vielen Tischen, die meisten allein, manche leise ins Gespräch vertieft. Vor ihnen Teller mit Huhneintopf, Gemüse, gegrillte Spieße oder Salat. Am Tisch der obligatorische Brotkorb, hier auch ein futuristisches Objekt aus weißem Kunststoff. Bevor ich selbst auch verlockt werde, Lamm zu bestellen, fällt mir gerade noch ein, dass es halb vier Uhr morgens ist. Mein Körper und das Hungergefühl scheinen völlig aus dem Rhythmus geraten sein.

Wenn schon nicht Lamm, dann doch einfach etwas anderes zum Knabbern. Ich schlendere ziellos durch das angrenzende Geschäft, das gefühlt in jeder Raststation das ewig gleiche Angebot bietet. Ich suche nach einem gesunden Snack für die restlichen Stunden Busfahrt und finde mich in der Entscheidung zwischen Chips, Soletti oder einem Schokoriegel wieder. Bei der Erinnerung, dass ich mir schon unzählige Male etwas Gesundes von einer dieser Raststationen kaufen wollte und jedes Mal mit einer Packung Chips das Geschäft verlassen habe, muss ich schmunzeln. Gemüse oder Obst gibt es hier einfach nicht. Reisende haben die Wahl zwischen Lammeintopf und Linsensuppe – oder eben Chips.

Unterwegssein, nicht Ankommen

Die Raststationen sind für mich ein Inbegriff von Nicht-Orten. Das immer gleiche Angebot in den Geschäften, die absolut identen Abläufe in der Pausenstruktur: Fahrer kündigt Pause an – Menschen steigen aus – Fahrer geht essen – sofort kommt ein Mann der Raststation und beginnt, den Bus von außen mit einer großzügigen Portion Seife, einem langen Schlauch und viel Wasser zu waschen. Ich habe selten so glänzende Busse gesehen wie jene in der Türkei. Während der Bus gewaschen wird, essen die Fahrer (Lamm oder Linsen), Reisende kaufen ein, gehen auf die Toilette, versuchen im Bus weiter zu schlafen. Die allermeisten aber sehen aus wie ich – blinzelnd, aus dem ohnehin schon zu kurzen Schlaf gerissen, völlig ziellos auf- und abmarschierend. So manch einer streckt sich oder bewegt verstohlen die eingeschlafenen Gelenke. Busfahren ist definitiv nicht die angenehmste Reiseform. Wenige Minuten vor der Weiterfahrt informiert die Stimme aus dem Mikrofon, dass es weitergeht und man sich im Bus einzufinden habe. In diesem Moment verspüre ich immer den Anflug von Nervosität: Schließlich stehen oft zehn Busse, darunter mehrere derselben Firma nebeneinander. Ich bin immer sehr darauf bedacht, nicht im falsche Bus zu landen.

Sie sind für mich der Inbegriff des Unterwegsseins, diese Raststationen. Sie zeigen mir immer wieder, wie sehr ich es liebe, unterwegs zu sein. Oft geht es mir kaum um das Ankommen, sondern um das Gefühl, in Bewegung zu sein, die Landschaft vorbeiziehen zu sehen und die Entfernung richtig zu fühlen.

Das Paradox der Raststationen

Es ist paradox mit diesen Raststationen. Einerseits könnten sie überall (in der Türkei) sein, die Abläufe sind immer die selben, Huhneintopf gibt’s in Ankara genauso wie in Adana, die Klopreise mögen variieren, sind aber auch überall zu bezahlen. Die weißen Hunde werden gen Osten hin mit abnehmender Temperatur struppiger und ihr Fell dichter. Aber auch sie sind Konstanten an diesen Orten, die mir Sicherheit geben.

Andererseits verbinde ich gerade mit diesen Nicht-Orten auch einen starken Bezug zu ganz bestimmten Reisen, auf deren Weg ich an Raststationen vorbeigekommen bin.

Meine allererste Fahrt von Istanbul nach Erzurum ist mir dabei noch deutlich in Erinnerung. Erzurum – irgendwo im Nordosten der riesenhaften Türkei, eine völlig neue Stadt und mein Zuhause für die nächsten sechs Monate.

Im warmen Istanbul steige ich in den Bus, neben mir eine teyze, die mich mit Keksen und Obst versorgt. Ihre Fähigkeit, die ganze Nacht durchzuschlafen, beneide ich. Bei jeder Raststation in der Nacht versuche ich (damals noch ohne Smartphone und GoogleMaps) kleine Fäden der Orientierung zu spinnen. Ist es schon kälter geworden? Sehen so die Hunde aus, die Barbara Frischmuth in Erzurum wie Wölfe heulen gehört hat? Sind wir schon nahe dran, an dieser neuen Gegend, auf die ich so neugierig bin? Meist verlieren sich aber alle Orientierungsfäden im Dunkel der türkischen Nacht. Bei jeder Raststation wickle ich meinen Anorak eng um mich, gehe aufs Klo, spaziere ein paar Schritte auf und ab und reibe verschlafen meine Augen. Und es wird kälter, immer kälter. Ich weiß noch, dass ich dann in der Früh, als mich der Schlaf überrollt wie eine Welle, aus der ich kaum mehr auftauchen kann, mit großen Augen die Außen-Temperaturanzeige im Bus beobachte: Irgendwann sind wir weit unter Null ankommen. Es ist Februar, es ist eisig kalt in Erzurum. Der Bus plagt sich die Straße bergan, findet einen Durchlass zwischen den Gebirgsketten und dann liegt eine Hochebene in atemberaubender Klarheit vor uns. In ihrer Mitte und auf fast 2000 Metern Seehöhe endlich: Erzurum.

Die Raststationen sind also Orte wie Nichtorte gleichermaßen. Sie bieten ein immer vertrautes Bild, sie sind Anker in den zehn- oder auch zwanzig-stündigen Busfahrten, die man in der Türkei von Ost nach West, von Nord nach Süd unternehmen kann. Huhn und Lamm, die weißen Hunde, die Toilette, Soletti und Chips gibt es immer. Sie bedeuten für mich angestrengtes Sich-Orientieren-Wollen, sie bedeuten einige Schritte in eisiger Kälte, sie bedeuten geschäftiges Treiben im Restaurant, sie bedeuten perfekt aufeinander abgestimmte Abläufe zwischen Raststationbetreibenden, Busfahrenden und Reisenden. Sie bedeuten viel mehr Atmosphäre und Lebendigkeit als Autobahn-Raststationen in Westeuropa. Ein mola yeri ist für mich Chips, eingelegte Oliven, eine Pausenzigarette für den Busfahrer, der Geruch von Seife und das Plätschern des Wassers, mit dem der Bus säuberlich gewaschen wird.

Vor allem aber sind sie mein Inbegriff des Unterwegsseins, in das ich so verliebt bin.

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