Von argentinischen Nomaden und anderen Begegnungen

Gastbeitrag von Laura Stahlhut

Trampen bedeutet für mich vor allem eins – Begegnungen. Begegnungen mit Menschen, auf die man im „normalen“ Alltag niemals treffen würde. Oder aber man trifft auf sie, bemerkt sie jedoch nicht, ignoriert sie, tut sie als sonderbarer Kauz ab. Viele dieser Tramping-Begegnungen sind nur von kurzer Dauer, vielleicht nur von einer Raststätte bis zur nächsten. Andere dauern länger, sind intensiver und bleiben für immer im Gedächtnis.

Schattenspiele als Zeitvertreib

Der argentinische Nomade Walter

So wie die Begegnung mit Walter. Auf dem Weg von München nach Wien stieg ich bei einem Mann ins Auto, der mir erzählte, dass er früher in den Ferien immer getrampt sei und er sich während dieser Fahrt schon gewundert habe, keinem einzigen Anhalter begegnet zu sein. Gerade als wir die Raststätte in der Nähe von Linz, an der ich ihn angesprochen hatte, verlassen wollten, sahen wir jemanden, der ein großes Schild mit der Aufschrift „Wien“ hoch hielt. Der nette Fahrer hielt sofort an und ein weiterer Rucksack gesellte sich zu meinem, der schon im Kofferraum lag.

Unser neuer Mitfahrer stellte sich als Walter vor, ein Argentinier, der seit sieben Jahren als Nomade durch die Welt zieht. Die Fahrt nach Wien verging wie im Flug und wir drei unterhielten uns über das Trampen und tauschten Erfahrungen und Anekdoten aus. In Wien half ich Walter, eine geeignete Stelle zu finden, um nach Budapest weiter trampen zu können und dann verabschiedeten wir uns an einer Bushaltestelle im 11. Bezirk.

Da wir Email-Adressen ausgetauscht hatten, meldete er sich ein paar Tage später und schrieb, dass er bald über Wien und Süddeutschland bis nach Spanien trampen wollte, da ihm der mitteleuropäische Winter zu kalt sei. Da er noch nie in Wien gewesen war, fragte er, ob er ein oder zwei Nächte bei mir übernachten könnte, um so die Gelegenheit zu nutzen und Wien zu erkunden. Ich freute mich sehr, ihn wieder zu sehen und aus den ein, zwei Nächten wurde eine Woche. Walter bereicherte unser WG-Leben, indem er uns seine schönen Geschichten erzählte und unglaublich leckeres Essen kochte. Ich hatte nicht das Gefühl, einen Gast im Haus zu haben, um den ich mich Tag und Nacht kümmern muss. Es fühlte sich eher so an, als sei ein alter Freund zu Besuch.

Walters Lebensstil ist für viele sicherlich nicht nachvollziehbar, für mich war es jedoch wahnsinnig inspirierend zu sehen, wie gut es ihm mit diesem Lebensstil geht und wie glücklich er ist. Als Walter weiterzog, war der Abschied nicht traurig, denn uns beiden war klar, dass wir in Kontakt bleiben und uns irgendwann wieder sehen werden – vielleicht ja wieder an einer Raststätte.

Unerwartet

Natürlich entstehen bei Tramping-Begegnungen nicht immer neue Freundschaften wie die mit Walter. Das muss aber auch gar nicht sein. Eine kurze Fahrt mit jemandem, der auf dem Weg zur Bierweltmeisterschaft ist, acht Stunden mit einem Anti-Terror-Fahnder, die Fahrt mit einer jungen Frau, die sich über die Freisprechanlange immer wieder mit ihrem Freund streitet und einen dann um tröstende Ratschläge bittet, oder aber ein altes Ehepaar, das von seiner Kindheit im Krieg erzählt – all das sind Begegnungen, die vor allem eins sind: unerwartet. Bis vor wenigen Minuten hat man nicht gewusst, dass diese Menschen existieren, und nun sitzt man neben ihnen und tröstet sie bei Liebeskummer oder lauscht gebannt ihren Geschichten über Bombenangriffe.

Aussicht in Spanien

“Why did you trust me?”

Andere Begegnungen regen zum Nachdenken an, zum Beispiel über die eigenen Vorurteile oder über die Frage nach dem Glauben an Schicksal oder Zufall. Ein solche Begegnung hatte ich im Sommer 2010. Wieder einmal wartete ich an einer Raststätte irgendwo in Deutschland und sprach die Autofahrer an der Tankstelle an, in der Hoffnung jemanden zu finden, der Richtung Österreich fuhr. Und so sprach ich auch Leonard an, dessen Namen ich natürlich erst später erfuhr.

Da ich das nichtdeutsche Kennzeichen an seinem Auto gesehen hatte, sprach ich ihn auf Englisch an und seine Antwort bestand aus einem einzigen Wort: „Maybe“. Während er zum Bezahlen in der Tankstelle war, fragte ich mich, warum ich ihn überhaupt angesprochen hatte – ein klappriges, altes Auto mit einem Wohnwagen und bulgarischem Kennzeichen und ein Fahrer, der so aussah, als sei er vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden. Der Grund, warum ich es vorziehe die Leute direkt anzusprechen, ist ja gerade, dass ich mir aussuchen kann, wen ich anspreche und mich somit als allein reisende Frau sicherer fühle. Während ich noch diesen Gedanken nachging, kam Leonard zurück und sagte „Come“. Wie auch schon bei dem ersten Wort, das er zu mir gesagt hatte, zeigte er keine Spur von Freundlichkeit. Trotzdem folgte ich ihm zum Auto und kann es mir bis heute nur mit Intuition erklären. Nachdem wir meinen Rucksack im Wohnwagen verstaut hatten, fuhren wir los und ich wusste immer noch nicht, bei wem ich da gelandet war oder wie viel Englisch er überhaupt konnte. Diese Fahrt sollte die eine oder andere Überraschung für mich bereit halten...

Leonard kam nicht aus Bulgarien, wie ich aufgrund des Nummernschildes vermutet hatte, sondern aus Rumänien. In einwandfreiem Englisch erzählte er mir, dass er zwei Mal im Monat in die Niederlande fährt, dort einen gebrauchten Wohnwagen kauft und diesen dann nach einigen Reparaturen in Rumänien weiter verkauft. Die größte Überraschung war jedoch, dass er sehr, sehr nett war und wir uns großartig unterhielten. Und zwar fast acht Stunden lang. Natürlich sprachen wir auch viel über das Trampen und die Gründe, warum ich trampe. Leonard stellte mir eine Frage: „Why did you trust me?“. Ich konnte sie ihm nicht beantworten und er erzählte mir, dass er an Landesgrenzen häufig von Beamten der Grenzpolizei kontrolliert würde und diese dann oft mit der Hand an der Waffe auf ihn zu kämen, weil er bei vielen Leuten so einen vertrauensunwürdigen Eindruck macht. Er wiederholte seine Frage noch mehrmals und belehrte mich, dass ich in Zukunft vorsichtiger sein sollte und es vermeiden sollte, bei „so Leuten wie ihm“ einzusteigen.

Bei einer Pause an einer Raststätte schob er mir wortlos die Hälfte von seinem Stück Kuchen rüber, doch Leonards Freundlichkeit ging noch weiter: Da es mittlerweile dunkel geworden war, weigerte er sich, mich an der letzten Tankstelle vor Wien raus zu lassen. Stattdessen zwängte er sich mit dem Wohnwagen durch die engen Gassen Wiens und setzte mich vor meiner Haustür ab. Ich wollte ihm wenigstens ein bisschen etwas zurück geben und machte ihm noch einen Kaffee. Das Angebot, sich auf unserer Couch ein paar Stunden auszuruhen, bevor er seine Reise fortsetzte, lehnte er jedoch ab und so trennten sich unsere Wege.

Die Begegnung mit Leonard hat mich noch sehr lange beschäftigt, da sie mir gezeigt hat, wie schnell man Menschen aufgrund ihres Äußeren verurteilt. In diesem Fall hat meine Intuition mir den richtigen Weg gezeigt, doch wer weiß, wie oft ich sie schon ignoriert und stattdessen auf meine Vorurteile gehört habe...

Wo die Grenzen liegen

Bleiben wir aber beim Thema Begegnungen mit rumänischen Fahrern. Als ich, mal wieder an einem Sommertag, mit meinem Rucksack an einer Landstraße in Transsilvanien stand und hoffte, es trampend bis nach Istanbul zu schaffen, nahm mich ein rumänischer Lkw mit. Aus sprachlicher Sicht war die Fahrt auf jeden Fall abenteuerlich: Der Fahrer sprach nur Rumänisch, mein Rumänisch-Wortschatz dagegen besteht aus ungefähr fünf Wörtern. Allerdings spreche ich Spanisch und ein bisschen Französisch und hatte einen kleinen Rumänisch-Sprachführer dabei. So „unterhielten“ wir uns über seine Ladung, meine Reise, das Wetter... Irgendwann nannte er mich kulegu (Rumänisch-Muttersprachler mögen mir meine Rechtschreibung verzeihen) und schließlich kulegu di pat. Laut meinem Sprachführer heißt pat Bett – das konnte ja heiter werden. Zum Glück musste ich das Wort für Nein nicht nachschlagen und so erklärte ich ihm mit einem bestimmten nu, dass ich von ihm nur ein Stückchen mitgenommen werden wollte – und sonst nichts!

Was darauf folgte war eine beinahe groteske Konversation: Circa eine Stunde lang versuchte er, mich dazu zu bringen, meine Meinung zu ändern. Seine Ausführungen untermauerte er mit den verschiedensten „Argumenten“. Doch auch ich wurde nun kreativ: unter den wenigen rumänischen Wörtern, die ich kenne, befindet sich auch das Wort frumos, was schön bedeutet. Um den Fahrer auf ein anderes Thema zu bringen, deutete ich also immer wieder fuchtelnd auf die an uns vorbeiziehende Landschaft und sagte „Romania – frumos“. Dass die Landschaft jedoch nicht besonders schön war, erkannte der Fahrer wohl auch, das Thema wechselte er jedenfalls nicht.

Als wir schließlich in die Stadt Braşov kamen, verabschiedete ich mich von dem sichtlich enttäuschten Mann und machte mich auf den Weg zum Bahnhof – dieses Mal sagte mir meine Intuition, dass ich nicht weiter trampen sollte. Zwar habe ich auf dieser Fahrt keine Angst gehabt, da der Fahrer während seiner gesamten Überredungsversuche nett blieb und nicht gefährlich wirkte, ein mulmiges Gefühl hatte ich natürlich trotzdem.

Dennoch bin ich sehr froh, dass sich alles so zugetragen hat, denn diese Erfahrung hat mir gezeigt, wo meine Grenzen liegen. Vom Trampen abgehalten hat sie mich ebenfalls nicht, sodass ich diesen Artikel mit einer schönen Begegnung beenden kann – die Begegnung mit dem türkischen Lkw-Fahrer Emin.

Emin in der Osttürkei

Mit einem dänischen Freund trampte ich in der Osttürkei und wir hatten das Glück, in Emins Lkw zu landen. Wir unterhielten uns sehr nett mit ihm und plötzlich fing er an, in einem Mini-Wasserkocher Kaffee für uns zu machen – während er gleichzeitig den Lkw lenkte. Da die Becher sehr voll waren, war es schwierig, den Kaffee während der Fahrt zu trinken und so hielt Emin auf dem Seitenstreifen an, bis wir in Ruhe ausgetrunken hatten. Er war aufgrund unserer abenteuerlichen Reiseart sehr besorgt um uns und bot uns an, bei seiner Familie zu übernachten. Da wir jedoch über Couchsurfing schon einen Host gefunden hatten, lehnten wir sein Angebot dankend ab.

In den nächsten drei Tagen rief er uns jeden Tag an um sich nach unserem Befinden zu erkundigen und bot uns jedes Mal an, uns abzuholen und bei seiner Familie unterzubringen, obwohl wir uns gar nicht mehr in seiner Stadt befanden.

Emin und sein fahrender Arbeitsplatz

Die Begegnungen und das Kribbeln

Es sind diese Begegnungen mit Menschen wie Walter, Leonard, Emin und auch dem rumänischen Lkw-Fahrer, die trampen zu einem unverzichtbaren Teil meines Lebens gemacht haben. Sie sind die Entschädigung für all die Schwierigkeiten, die das Trampen mit sich bringt. Wenn ich trampe und nach vielen Stunden des Wartens immer noch an der gleichen Stelle hocke, sind es die Erinnerungen an diese Begegnungen, die mich dazu bringen, nicht aufzugeben und es weiter zu versuchen.

Und manchmal, wenn ich an diese und all die anderen spannenden und schönen Begegnungen denke (so wie jetzt gerade während des Schreibens), spüre ich ein Kribbeln und würde am liebsten sofort wieder meinen Rucksack packen, mich an die nächste Straße stellen und lostrampen...

Erstveröffentlichung dieses Beitrags in: in: Abgefahren e.V. (Hrsg.) (2012): Hit the Road. Das Tramper-Taschenbuch. Norderstedt: Books on Demand. (Infos zum Buch findet man bei der Deutschen Autostop Gesellschaft.). Herzlichen Dank an Laura für diesen Beitrag für meinen Blog “Menschen in Begegnung”!

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Gehen - eine Chance für Begegnung

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Und die Insekten kamen doch…